Wednesday 14 June 2017

Von Vor-Urteilen



Eines Abends setze R., 94 Jahre alt, sich an den Abendessenstisch und begann zu reden. Normalerweise ist er nicht zu gesprächig, aber nun redete er über alles und jeden und wurde gar zunehmend ausfallend und fing an zu fluchen. Er gab völlig ungefiltert kund was er von einigen Menschen hält. Die Kollegen dachten sich prompt: "Nanu? Da stimmt was nicht." Die Stirn gefühlt - und er glühte. 
Durch Zufall war gerade ein Krankenwagen vor dem Haus, sie sollten eine andere Bewohnerin für eine Weile in ein Krankenhaus bringen zur Erholung. Die Sanitäter sahen sich R. an, hakten alle ihre Tests ab und riefen selbst einen zweiten Krankenwagen, er habe hohes Fieber und sie hätten zuerst diesen anderen Auftrag, aber sie würden auf die Kollegen warten und ihn "übergeben" damit er schnell ins Krankenhaus käme.




Der zweite Krankenwagen traf ein, der Sanitäter des ersten erklärte die Situation, gab seiner Kollegin und ihrem Azubi alle Testergebnisse und brach auf mit seiner Patientin. Die Sanitäterin des zweiten Teams bestand darauf, sämtliche Tests nochmal zu erledigen. R. wurde zunehmend ungeduldig und unzusammenhängend und mußte davon abgehalten werden aufzustehen und ohne seinen Rollstuhl herumzuwandern. Eine Kollegin sprach mit ihm, die andere, meine Chefin und ihres Zeichens Krankenschwester von Beruf, mit der Sanitäterin. Sie wollte wissen ob meine Chefin eine Angehörige sei - als sie verneinte war sie fortan nicht mehr der Rede wert...
Die Sanitäterin wollte R.s Akten haben - meine Chefin erklärte daß wir kein Pflegeheim sind die die herausgeben, unsere sind vertraulich da sie auch allerlei finanzielle Daten etc. enthalten. Sie bestand dreimal darauf, sie würde wohl nicht verstehen daß sie diesem Mann helfen wolle. Dreimal bekam sie dieselbe Antwort und wurde zunehmend aufgebrachter. Dann fragte sie nach dem Tagebuch der Betreuer aus seiner Wohnung. Meine Chefin erklärte daß das Eigentum des Councils sei, sie nicht darüber verfügen könne und wir nicht die Wohnung betreten dürfen solange R. nicht dort ist oder Erlaubnis gibt. Wozu er nicht in der Lage war. Sie wurde noch aufgebrachter und bat meine andere Kollegin doch mit ihrem eigenen Mitarbeiter in die Wohnung zu gehen und das zu holen, sie wolle dem Mann doch helfen...




Die Kollegin sagte zu ihr daß sie das nicht ohne Erlaubnis ihrer Managerin tun werde da sie die Wohnung nicht betreten darf in R.s Abwesenheit. Der andere Sanitäter war mittlerweile mehr als peinlich berührt und R. saß seit einer Stunde da und wurde zunehmend aufgebrachter, seine Temperatur stieg weiter und er war schon fast im Delirium. Die Chefin mußte sich für einen Moment entfernen, sie war soweit handgreiflich zu werden und das spielte sich ja alles in der Anwesenheit anderer Bewohner im Speisesaal nebenan ab die dort ihr Abendessen beendeten. Schweigend.
Am Ende luden sie den armen Mann endlich in den Sanka und brachten ihn ins Krankenhaus - wo er postwendend einen Herzinfarkt erlitt und sie das Fieber nicht senken konnten..."touch and go". Inzwischen wird er etwas kräftiger, aber die Situation war ernst.
Hätte meine Chefin sich von Anfang an mit ihrer Position vorgestellt hätte diese Sanitäterin sich vermutlich kein Wort erlaubt. Mich erstaunt immer wieder daß Menschen sie als diese "kleine alte Frau" abtun die "hier aushilft". Nein, sie ist die Managerin und hält den ganzen "Laden" zusammen! Sie kommt außerdem selbst aus dem Gesundheitswesen und ihr eigener Sohn ist ein Sanitäter, sie weiß also ganz genau wann die ihre Kompetenzen überschreiten. So wie in dieser Situation. Wenn sie dem Mann doch so sehr helfen wollte hätte sie ihn postwendend ins Krankenhaus bringen können statt ihren Azubi beeindrucken zu müssen. 




Bleibt zu hoffen daß einer der anderen Sanitäter ihr erklärt hat wer diese "alte Frau" ist mit der sie sich da auf Biegen und Brechen anlegen mußte als sie sich zweifellos über sie aufregte. Eine simple Frage wer sie sei hätte von vorneherein geklärt daß ihr Wort gilt und R. dieses Theater erspart.

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